Schulgeschichte

125 Jahre Grafenschule in Deusen
von Prof. Dr. Kurt-Ingo Flessau

Grafen haben sie nicht gegründet, haben nicht in ihr gelernt, Gräfliches ist ihr fremd: Sie hat klein begonnen, als eine Art Ableger der Volksschule im Nachbarort Linden­horst, 1884, als Dortmund klein und Deusen noch kleiner war. Sie war lange Zeit die Volksschule alten Stils: Schule für die Kinder der kleinen Leute, derjenigen also, die Kohle zu Tage förderten und Eisenerz schmolzen.

Diese Schule ist geradezu ein Symbol für das preußische Volksschulwesen seit der sog. Gründerzeit. Volksschulen durften im Reich der Hohenzollern nicht viel kosten. Die beiden deutschen Kaiser Wilhelm I. und Wilhelm II. brauchten für ihre politischen und gesellschaftlich-wirtschaftlichen Entwürfe brauchbare Arbeiter und gehorsam-tapfere Soldaten, gewohnt, zu gehorchen und das klaglos zu tun, was die Obrigkeit von ihnen verlangte. Diese Schule hat gute und schlechte Zeiten erlebt: das Entste­hen einer bedeutenden deutschen, dann europäischen Industrieregion sowie ihren Wandel und teilweisen Untergang, zwei mit großen politischen Absichten und Ansprü­chen begonnene Weltkriege samt ihren folgenden Katastrophen, wie sie die Welt bis­her nicht gesehen hatte, mehrere Staats-, Regierungs- und Ge­sell­schafts­formen, den hohen Aufstieg und tiefen Fall Einzelner sowie ganzer Dynastien, Glanz und Reichtum bis dahin unbekannten Ausmaßes samt dem Untergang und Wiederaufstieg.

All das ist an dieser Schule nicht spurlos vorübergegangen, sondern hat sie und die in ihr Tätigen – Lehrer wie Schüler – geprägt, aber sie ist eine in jeder Hinsicht kleine Schule geblieben: räumlich eng, in ihren Möglichkeiten zu unterrichten zeitweise kümmerlich und ganz und gar nicht großzügig. Und dennoch zeigen Schulprotokolle und einzelne Fotografien sehr deutlich: Sie war tüchtig, weil sie tüchtige Lehrerinnen und Lehrer hatte; sie hat Bildung vermittelt, und nicht nur Lesen, Schreiben, Rechnen und Religion, sie hat Kinder zu tüchtigen Menschen gemacht und dazu beigetragen, dass Deusen groß und größer wurde, aus seiner Provinzialität herausfand und, nicht zuletzt durch die Zeche Hansa in Huckarde sowie eine Reihe von Klein- und Mittelbe­trieben, eine nennenswerte wirtschaftliche Rolle in der Stadt Dortmund und der Re­gion spielte und spielt.

Die Grafenschule, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeitweilig die kleinste Schule im Lande NRW, war für den Ort selbst und seine Bürger geistiges Zentrum über mehr als ein Jahrhundert, und wenn der Soziologie-Begriff Enkulturation im Zu­sammenhang mit Schule je einen Sinn hatte, dann hier: Diese Schule führte in die deutsche und europäische Kultur, beginnend mit den drei Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen, führte zur Begegnung mit Literatur, Musik und bildender Kunst, mit christlicher Religion und den christlich-humanistischen Wertordnungen, d. h. den Tugenden und Sitten, sowie mit Umgangsformen, Verhaltens- und Lebensweisen. Sie hat Interessen geweckt, Neigungen gefördert, den Geist der Kinder sich entfalten las­sen und wachgehalten, die Volks- und Grundschullehrpläne mit Inhalt und Leben ge­füllt, aus „unbeschriebenen Blättern“ Charaktere gemacht. Sie hat sich mit dem oft nur Wenigen und Kärglichen, dem dauernden Mangel an Lehrern, Materialien und Räum­lichkeiten abgefunden, besser noch: ihn so gut wie möglich zu nutzen gewusst und – bescheiden, wie sie selbst es war – zu Bescheidenheit erzogen. Sie war für Generati­onen von Schülern und ihren Eltern Lebensmittelpunkt, oft genug freilich auch nicht nur als positiv empfundener, wenn sich schlechte Noten und Tadel häuften, Sit­zenbleiben und Schulversagen Ängste weckten und Minder­wertig­keits­gefühle hervor­riefen.

Gefragt hat freilich wohl keiner in den Konferenzen oder der Schulverwaltung, wer für solche Fehl- und Minderleistungen der Schüler verantwortlich sei: die – angeblich lernfaulen, lustlosen – Schüler selbst, die überlasteten Lehrer und Lehrerinnen, die Enge und Not der Elternhäuser, d.h. die oft elenden Lebensumstände, unter denen Kin­der heranwuchsen.

Endlich: Diese Schule hat Veränderungen ohne Ende erlebt und durchgemacht, die politischen von der Monarchie über eine kurze Demokratie und die barbarische Dik­tatur zu einer weiteren Demokratie; die wirtschaftlichen mit dem Wechsel von Wohl­stand und Armut, Wirtschaftwunder und Wirtschaftsflauten. Sie war nacheinan­der Zwerg­schule mit einem Raum und vielen Schülern, vollausgebaute Volksschule, Grundschule des neuen Typs mit mehr oder weniger Schülern. Bei aller Veränderung ist sie sich in einem immer gleich – mehr noch – immer treu geblieben:

Für sie und ihre Lehrerinnen und Lehrer stand im Mittelpunkt das Kind!